“Wo bleibt die Orgie?”

Woran denkst du, wenn du den Begriff “Tantra” hörst?
Wenn du noch keine Tantra-Seminare mit Schwerpunkt auf Selbsterfahrung besucht hast, so wirst du, statistisch gesehen, vermutlich zuerst mal an Sex denken, dann wird dir der Begriff “Tantramassage” einfallen; danach wohl etwas in Richtung “besser, länger, öfter”, “jeder muss dauernd mit jedem, sonst ist man kein ‘Tantriker’ “, oder du erwartest dir doch wenigstens irgendeine Form von Orgie – so ungefähr auf dem Level, wie wir sie auf den Darstellungen der Tempelanlagen von Khajuraho bestaunen.

Eine der zahllosen Szenen der Tempelanlage in Khajuraho, Indien
Eine der zahllosen Szenen der Tempelanlage in Khajuraho, Indien

Wer mit solchen Bildern im Kopf zu einem Tantra-Seminar kommt (wenn er oder sie denn mit solchen Bildern im Kopf überhaupt kommt!), wird je nachdem schwer enttäuscht sein oder erleichtert aufatmen können: Mit Orgien hat das Seminargeschehen so rein gar nichts zu tun!
Du wirst dort hingegen eingeladen zu atmen und verschiedene spannende Atemtechniken auszuprobieren; du hast Gelegenheit, dich spielerisch in eine Katze oder ein Nilpferd zu verwandeln; du begegnest Unbekannten so unmittelbar wie du es aus deinem Alltag nur selten kennst; du erfährst, dass und wie du Einfluss auf deine eigene Energie nehmen kannst.
Das ist für viele eine ganz neue, befreiende Erfahrung; andere hingegen erleben ihre ersten tantrischen Schritte als mühsam und ernüchternd (ja, wo bleibt denn jetzt die Orgie?!).

Hat Tantra eigentlich überhaupt etwas mit Sex zu tun?

Ja, hat es – aber anders als die meisten vermuten.
Sexualität ist im Tantra nicht Selbstzweck, sondern praktisches Mittel mit einem weit höher gesteckten Ziel: Selbsterkenntnis und Befreiung von selbstgerechtem Egoismus.
Tantra hat mit Sex so viel zu tun so wie Räder mit einem Auto: Ein Auto ohne Räder ist nicht funktionstüchtig, doch Räder ohne Auto machen so richtig gar keinen Sinn.

Wenn Tantra-Seminare beim Sex stehenbleiben und nicht darüber hinausgehen, so ist das wie das Versprechen, dich das Fliegen zu lehren – doch dann bringt man dir nur bei, dir Flügel anzuschnallen und fest mit den Armen zu wacheln. Zum Fliegen aber muss man bereit sein, die Erde hinter sich lassen, und Wacheln ist nicht Fliegen.

Im Alltag erleben viele, dass sie sich nach einer Liebesbegegnung nicht gestärkt, innig verbunden und energiegeladen fühlen, sondern das genaue Gegenteil – oft bleibt eine Leere, die wir dann mit Ersatzhandlungen (fernsehen, essen, gamen…) zu füllen versuchen.
Im Tantra gilt Sexualität als heilige, unversiegbare Quelle für Energie.
Damit sie diese Funktion erfüllen kann, brauchen diejenigen, die sich dieser Quelle nähern – wir – , jedoch einen entspannt-natürlichen Zugang zu ihr. Das ist bei den meisten von uns nicht der Fall: Wir sind traumatisiert, neurotisch, egozentrisch, dramafreudig, ängstlich, selbstgerecht und dabei selbstzerstörerisch unterwegs.
Eben darum ist es die Aufgabe vor allem der Einsteigerseminare und des Großen Bogens, Entspannung, Freude, Vertrauen und Aufrichtigkeit wieder wachsen zu lassen.
Jup, das ist Arbeit, und es verlangt Entschlossenheit, Zeit, Energie und Übung. (Sorry, Orgienfreunde!)

Die Resultate dieser Investition in dich selbst sind oft anders als man sie sich ursprünglich ausgemalt hatte.
Ich erinnere mich an ein Paar, das schon viel an sich gearbeitet hatte und sich dann beklagte, dass sie gar nicht mehr “dazu kommen, Tantra zu machen” – sie waren einfach zu beschäftigt, ihre Beziehung wertschätzend zu führen, auf den eigenen emotionalen Haushalt zu schauen, sich der inneren Bewegungen, Ängste, Hoffnungen bewusst zu sein, Flüchtlinge zu betreuen,… und sebstzentriertes Tun, Groll, Hoffnung auf Anerkennung etc. loszulassen.

Das aber wäre eine recht präzise Beschreibung eines in der Wolle gefärbten tantrischen Lebens: Eines wo man selbst gut für sich sorgt, und eben deshalb gerne und in eindrucksvoller Großzügigkeit für andere da sein kann.


© Helena Krivan, 2019

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