Also bei den meisten unserer Teilnehmer*innen läuft es so: Es kommt ein Moment im Leben, wo man meint, jetzt müsse sich dringend was ändern. Man schaut sich um, probiert einiges, sucht weiter, filtert zunehmend geschickter und landet dann irgendwann bei Tantra.
Da tun sich für viele dann völlig neue Türen auf: Achtsamkeit ist plötzlich kein esoterischer Begriff mehr, Selbst-Bewusstsein bekommt eine neue Dimension, Geduld mit sich und anderen wird möglich, Lebensfreude und Humor kehren zurück, Uralt-Probleme lösen sich auf oder werden gut handlebar. Oft gibt es erfreuliche Veränderungen im Freundeskreis, und manchmal findet man auch eine neue Liebe.
So weit, so gut; doch genau hier kommen viele an eine Wegkreuzung, oft ohne es zu wissen. Während es in der einen Richtung weitergeht zu vertiefter Innenschau und höherer Einsicht, geht es in der anderen Richtung zu vertieften Egoblähungen und höherer Nabelschau. Das Fatale daran: Man merkt ganz lange nicht, dass man irgendwo falsch abgebogen ist, und meint im Gegenteil, ganz besonders “tantrisch unterwegs” zu sein.
Einerseits wird romantisches Träumen (“er ist die Liebe meines Lebens”, “du und ich, auf ewiglich”) mit der überpersönlichen, umfassenden, bedingungslosen Liebe (“Ich schenke meinem Gegenüber, wer immer es auch ist, Achtsamkeit und aufrichtige Präsenz”) verwechselt; andererseits wird auf dem Altar der vermeintlich bereits erlangten Egolosigkeit gerne der gesunde Hausverstand geopfert. In Folge wird noch so manches andere unheilvoll verwechselt und freudig unter der Überschrift “Tantra” aufgezählt:
Liebe wird gerne mit Verliebtheit verwechselt
Unverbindlichkeit mit Befreiung
Bindungsunfähigkeit mit umfassender Liebesfähigkeit
Ichbezogenheit mit Bewusstheit
Nabelschau mit Innenschau
unnötiges Leiden mit Tapferkeit
Selbstgerechtigkeit mit Gerechtigkeit
Energie mit Erleuchtung
offenkundige Übergriffe mit notwendigen Lernaufgaben
Hirnwichsen mit Erkenntnis
Angeberei mit Meisterschaft – um nur einige zu nennen.
Wenn du schon in der Falle sitzt, wird dir dieser Text möglicherweise wenig helfen: Es braucht viel Übung in unbarmherziger Selbsterkenntnis um sich einzugestehen, dass man möglicherweise irgendwo falsch abgebogen ist.
Wenn du aber noch an deiner Kreuzung stehst und anderen zuschaust, wie und mit welchem Resultat sie ihre Richtung wählen, dann können die folgenden knappen Definitionen vielleicht nützlich sein. Sie sind notwendigerweise nur Ausschnitte des Ganzen und lediglich als erweiterte Überschriften zu verstehen – jede würde ein eigenes Essay verdienen.
Du weißt, dass du verliebt bist, wenn die Welt nur dann Sinn macht, wenn der/die Liebste da ist und dich wiederliebt.
Du weißt dass du jemanden tatsächlich liebst, wenn ihr den ganz normalen Alltag teilt, Rechnungen zahlt, die immer deutlicher hervortretenden Macken gegenseitig toleriert, einander dabei nicht umbringt – und das mehrere Jahre lang.
Befreiung bedeutet niemals Unverbindlichkeit, also zB. sich aus einer Verantwortung davonzustehlen (etwa Kindern oder Geldgebern gegenüber). Befreiung bedeutet, dich deiner Zwänge, engen Sichtweisen, eingefahrenen Muster, deiner Vorurteile und auch deiner irrationalen Ängste zu entledigen.
Nur weil ich mich nicht auf eineN Beziehungspartner*in festlege, heißt das noch nicht dass ich Meister*in der Polyamorie bin – es kann auch einfach bedeuten, dass ich mir meine Beziehungsängste noch nicht ausreichend angeschaut habe und meiner Umgebung meine Bindungsunfähigkeit als “umfassende Liebesfähigkeit” verkaufe.
Falls du anderen laufend und ungefragt Einblicke ins eigene Innenleben aufdrängst – und sei es in noch so wohlklingenden, einfühlsamen, von psychologischen oder tantrischen Termini durchsetzten Worten – kann es gut sein dass nicht makelloses Bewusstsein aus dir strahlt, sondern du schlicht ein nervensägender Egoist bist.
Innenschau ist, wenn ich mir möglichst emotionsfrei bewusst mache, was gerade in mir vorgeht, wie es mit dem Außen in Bezug steht und wie ich bestmöglich – für mich und andere – damit umgehen kann.
Nabelschau ist, wenn sich diese Erkenntnisse unaufhörlich um mich selbst drehen und das Außen dieser selbstbezogenen Betrachtung im Spiegel untergeordnet ist.
Es gibt auch Nabelschau-Paare: Sie sind so ausschließlich aufeinander bezogen und mit ihren unglaublichen, unaussprechlichen, von keinem anderen Menschen bisher so erlebten Erfahrungen beschäftigt, dass ihre Einsichten und Erkenntnisse kein Beitrag für die Welt sind.
Tapferkeit ist, wenn ich ungewöhnlichen Mut aufbringe, also etwa meiner größten Angst ins Auge blicke und trotz meiner Panik mit möglichst klarem Geist durch die beängstigende Situation durchgehe.
Unnötiges Leiden ist, wenn ich jemandem mit meinem Mut etwas beweisen möchte und/ oder die Situation auch eine andere, schlichtere Lösung zuließe (die sich halt aber dann nicht so gut herzeigen lässt).
Selbstgerechtigkeit regt sich – lautstark oder auch nur innerlich – darüber auf, dass andere nicht die Regeln einhalten (obwohl man es selbst auch nicht mit allen Regeln immer ganz so genau nimmt).
Gerechtigkeit dagegen bemüht sich, Entscheidungen bestmöglich und nicht mit dem eigenen Interesse ganz oben auf der Liste zu treffen.
Nur weil es in deinem Körper fallweise mal kribbelt oder rauf und runter strömt, du Eingebungen hast, Gefühle ekstatischen Glücks kennst und andere dabei vielleicht sogar auch ein Stück mitnehmen kannst, heißt es noch nicht, dass die Erleuchtung schon ums Eck biegt. Sorry – das sind zwar ausgesprochen nette Energiespiele, aber eben nicht mehr als das.
Wenn jemand regelmäßig deine Pflanzen verdursten lässt, dich belügt oder vor anderen niedermacht, auf deine Kosten lebt und/oder dabei im Rausch dich und deine Kinder bedroht, so ist das kein erleuchteter Guru, der dir hilft, dein Karma abzubauen, indem er dich schwer, aber weise prüft.
Deine Lernaufgabe ist in diesem Fall nicht, auszuharren bis er sie für bestanden erklärt und sich wieder in den gütigen, liebevollen Partner verwandelt, in den du dich verliebt hast – deine Lernaufgabe ist es, Übergriffe klar als solche zu erkennen und entsprechend zu deinem eigenen und zum Schutz deiner Kinder zu handeln.
Nachdenken und eine klare Sicht auf die Dinge erlangen zu wollen ist gut, denn es kann zu Erkenntnis führen.
Alles hundertfach zu hinterfragen und so lange im Kreis zu zerdenken bis nichts mehr übrigbleibt was Sinn macht führt hingegen nicht zu Erkenntnis, sondern gehört in den Bereich des sterilen “Hirnwichsens“.
Wenn du einiges gelernt und vielleicht sogar gemeistert hast, dann zeigt sich dein Fortschritt nicht in Angeberei oder indem du gegenüber anderen deine neu gewonnene “Freiheit” heraushängen lässt: Meisterschaft zeigt sich in Zurückhaltung, Bescheidenheit und unaufdringlicher Hilfsbereitschaft.
Wie soll man nun um diese zahllosen und leicht zu verwechselnden Fallen herumnavigieren? Woher sollen wir wissen, was was ist – und wie lernen wir sinnvoll und zuverlässig zu unterscheiden?
Was hilft, ist allein Übung.
Durch Übung erkennt man wiederkehrende Fallstricke, aber auch wiederkehrende zuverlässige Wegweiser. Es ist hilfreich, in einer Gruppe Gleichgesinnter zu üben – so wie es hilfreich ist, in einer Seilschaft auf einen Berg zu klettern.
In den vielen verschiedenen Seminaren die das Institut Namasté seit 1996 anbietet, wird Raum für genau diese Übung im Erkennen geschaffen: Wo sind die Fallstricke, woran erkenne ich einen zuverlässigen Wegweiser – und wie finde ich eine Seilschaft, die mich auf meinem ganz persönlichen Werdegang unterstützt.