Tantra Quacksprech
Auf dem Marktplatz der Meinungen tummelt sich vielerlei – manches wirst du als richtig empfinden, anderes als fragwürdig, einiges als glatten Unsinn.
Unsinn zu reden ist das Privileg von uns Menschen (Tiere halten sich mit sowas nicht auf): “Ich rede Unsinn, also bin ich Mensch”, schrieb Dostojewski. Das klingt nachvollziehbar; doch ist Unsinn reden auch tantrisch?
Da begegnet man etwa in den sozialen Medien der Behauptung, man dürfe alles sagen – inklusive krause Verschwörungstheorien vertreten, etwa dass die Erde eine Scheibe sei -, mit Argumenten wie “Für mich darf jeder seine Wahrheit über Politik, Geld, Außerirdische, usw. haben. Das ist Meinungsfreiheit, und wie wir im Tantra gelernt haben, sind alle Gegebenheiten rein.“
Ex falso quodlibet, entgegnet der Logiker: Wenn von falschen Grundannahmen ausgegangen wird, kann man sich das Resultat dann zurechtzimmern, wie man möchte. Hier werden also Äpfel mit Birnen wild durcheinandergemischt und gleich zwei grobe Missverständnisse miteinander vermengt. Was herauskommt ist – Unsinn.
Schauen wir uns die Aussage genauer an: “Für mich darf jeder seine Wahrheit über Politik, Geld, Außerirdische, usw. haben. Das ist Meinungsfreiheit.” Bis dahin kann man dem Satz leicht zustimmen: Wir leben schließlich in einer Demokratie, und jedeR hat ein Recht auf eine eigene Meinung.
Allerdings – und das wäre besonders heute wichtig zu unterscheiden, wo die Corona-Experten nur so vom Himmel prasseln -, ist eine Meinung nicht mit Tatsachen zu verwechseln: Ich kann durchaus der Meinung sein, dass 2 plus 2 fünf sei. Ich darf diese Meinung öffentlich vertreten, von mir aus eine Partei dazu gründen und, wenn’s sein muss, auch Wahlen damit gewinnen.
Nur, stimmen wird es deshalb noch immer nicht.
Um uns im Dickicht der selbsternannten Experten-Tweets und Posts nicht allzu weit vom Hausverstand zu entfernen, wären Meinungen von Fakten fein zu unterscheiden. Wenn wir klug sind, greifen wir bei unserer Suche nach der Wahrheit auf Portale zu, die sich nicht mit der Verbreitung von Angst, Drama und Skandal befassen, sondern mit dem Auseinanderdröseln von Fact & Fiction.
Das ist das eine Missverständnis.
Das andere ist weit entschuldbarer, denn Tantra, seine Grundlagen und seine Ziele sind leicht misszuverstehen, wenn man sich nicht ernsthaft, lange und anhand zuverlässiger Quellen damit beschäftigt.
Schon richtig: Laut Tantra sind alle Gegebenheiten rein. Dies ist eine der Kernaussagen des Tantra.
Aber was bedeutet das? Wenn ich diese tiefgründige und folgenreiche Aussage leichtfertig für meine ganz persönlichen Zwecke gebrauche, mache ich damit deutlich, dass mein Verständnis nicht sehr tief reicht. Es wäre so als ob ich zu einer neuen Bekanntschaft sage “Ah, du interessierst dich für Spiritualität? Na dann gemma doch einen trinken!”
Diesen Satz, Alle Phänomene sind rein, ohne vorangehende tiefe Einsicht anzuwenden ist nutzlos, und tantrische Meister*innen würden sagen gefährlich. Statt vom aufgeplusterten Ego wegzuführen, was sein eigentliches Ziel wäre, bläht er es umso mehr auf: Wir fühlen uns wissend, besser (“tantrischer”) als andere, über den Regeln stehend. Ohne wirkliche Einsicht, die nicht geschenkt wird sondern mit ziemlichem Aufwand errungen werden will, ist die Aussage allein ziemlich absurd: So als würden wir triumphierend verkünden dass, weil ja E = mc2 ist, in meinem kleinen Finger mehr Energie steckt als zum Betreiben aller Haushalte dieser Welt nötig wäre.
Ja, und?
Das mag schon stimmen, aber was bringt es? Wie kannst du diese Energie konkret nutzbar machen, jenseits vollmundiger Behauptungen? Die beste Theorie ist wenig wert, wenn die Praxis am Wegesrand verkümmert.
Alle Phänomene sind rein bezieht sich darauf, dass ich mich als Tantriker*in darin übe, nicht zu urteilen, dh. alles, was mir begegnet, gleichermaßen willkommen zu heißen – egal ob ich im Lotto gewinne oder mein Kind gerade mit der Rettung ins Krankenhaus gefahren wird. (Daran merkt man schon, wie schwierig diese hohe Übung ist – nichts für Einsteiger, die zumeist keine andere Wahl haben als sie misszuverstehen).
Nicht zu urteilen, nicht in besser und schlechter einzuteilen oder in möchte ich/möchte ich nicht: Das ist etwas anderes als links nicht von rechts und rot nicht von grün unterscheiden zu können.
Unterscheiden, ja. Urteilen, nein.
Das ist das zweite Missverständnis.
Um sich in unserer verwirrenden, manchmal beängstigenden, oft verführerischen Welt zu orientieren, hilft es neben schnittigen neuen, auch Jahrtausende alte und entsprechend bewährte Kompasse heranzuziehen. Zum Beispiel solche aus dem Buddhistischen Tantra, wo es über weite Strecken um Ethik, Freundlichkeit und das Loslassen der Ich-Anhaftung geht. Diese Hilfsmittel wirst du übrigens in allen unseren Seminaren wiederfinden, unabhängig vom Level.
Hier ein Hinweisschild, das ich mir selbst gerne hinstelle um leichter festzustellen, ob ich mich in Unsinn zu verlaufen drohe: Solange ich noch Eigeninteresse in meinen Gedanken, Aussagen oder Handlungen entdecke, und sei es noch so hauchzart, kann ich davon ausgehen, dass ich noch nicht auf der Ebene des “Alle Gegebenheiten sind rein” angekommen bin.
© Helena Krivan, 2020
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