Was ist Tantra?
Auszug aus Tantra – wozu?
Die traditionsreiche indische Lehre kann ein frisches erotisches Lüftchen ins Schlafzimmer bringen, versprechen populäre Sexualratgeber. Nur wenige Menschen wissen, worum es sich bei Tantra genau handelt und was es eigentlich bezwecken soll.
Eines ist aber sicher: Westliches Tantra kann sich positiv und heilsam auf sämtliche Beziehungen in deinem Leben auswirken.
Was ist Tantra? Immer wieder wird diese Frage aufgeworfen.
Von spirituell interessierten Menschen, Seminarteilnehmern, praktizierenden Buddhisten und gerne auch von Journalisten. Die Antwort darauf kann durchaus unterschiedlich ausfallen, denn das Thema selbst ist unfügsam, windet sich wie die sprichwörtliche Kundalini-Schlange und verlangt kompromisslos einen immer neuen Zugang.
Je nachdem womit das Gegenüber bereits vertraut ist, was der Situation angemessen ist und nicht zuletzt, was man selbst seit dem letzten Mal an Erfahrung und Einsicht dazugewonnen hat, wird die Antwort auf die immer gleiche Frage sich wandeln wie die Bilder in einem Kaleidoskop.
Auch die Übersetzung des Sanskrit-Begriffs Tantra entzieht sich dem eindimensionalen Zugriff. Sanskrit-Wörterbücher nennen für tantra als Silbenkombination die Bedeutungen Arznei, Glück, Webstuhl, Feuerprobe, Trick, Eid, richtige Vorgangsweise oder auch Ursache für mehr als eine Wirkung.
Weitere wichtige Bedeutungen von tantra sind wissenschaftliche Arbeit oder religiöse Abhandlung (vergleiche tantra als Bezeichnung für Lehrschriften einer sehr spezifischen Übungspraxis aus dem Tantrischen Buddhismus, etwa als Kalachakra-Tantra). Im westlicheren Kulturkreis hingegen wird unter Tantra oft eine Sammlung von Methoden zur Persönlichkeitsentwicklung verstanden, wobei dem Aspekt der nicht-hedonistischen, also nicht rein genussorientierten, Sexualität Raum gegeben wird.
Diese Mehrfachbedeutung des Begriffs führt immer wieder zu Missverständnissen zwischen den verschiedenen Tantra-Praktizierenden. Während viele der genannten Bedeutungen selbsterklärend sind, kann ich selbst dem webenden, verbindenden Aspekt des Begriffs besonders viel abgewinnen.
Was genau wird denn nun auf dem tantrischen Webstuhl
verwoben und verbunden?
Ganz schlicht: Gegensätze.
Sie werden so lange gezielt verbunden, bis sie sich aufgelöst haben, bis die Grenzen zwischen ihnen sich verwoben haben, bis die Übende sich so auf eine Ebene jenseits der Dualität und des mentalen Verstehens katapultiert und damit – für Sekunden jedenfalls – das Ziel des Strebens erreicht hat.
Das liest sich einfacher als es ist.
Das Auflösen von Gegensätzen geht mit massiven inneren Widerständen einher, denn unser Geist tut sich schwer einzusehen dass es etwas jenseits von heiß und kalt, gut und schlecht, existent und nicht existent und vor allem, außerhalb vom Geist selbst geben soll.
Tantrische Ansätze waren von jeher revolutionär und riefen Widerstand hervor; das ist auch der Grund warum Tantra nie eine Massenbewegung, sondern immer Anliegen einer kleinen Handvoll scheinbar Halbverrückter war.
Vor rund 4000 Jahren in Südindien vor dem religiösen Hintergrund des Hinduismus entanden, hat sich die frühe Tantrabewegung radikal gegen alles gewendet, das den Eltern heilig war und als alleinseligmachender Weg zum Erwachen angesehen wurde: strikte Reinheit etwa, Kastenwesen, rigoroses Fleisch- und Alkoholverbot.
Die respektlose junge Generation hingegen behauptete, dass Erwachen genau dann erreicht wird, wenn weltlichen Versuchungen eben nicht unter Selbstkasteiung widerstanden wird. Im Gegenteil: die Versuchungen sollten zum Ruhm der Götter in sakralem Rahmen ausgelebt werden, bis sich ihre Leerheit ganz von selbst offenbarte.
Etwas dieser Offenbarung annähernd Vergleichbares kann ich übrigens in ganz normalen Alltagsmomenten erfahren, wenn mir zB. nach zwei Stunden Social Media-Konsum schlagartig bewusst wird, wie schablonenhaft, selbstbestätigend und leer sich dieses Versumpern in der Versuchung danach anfühlt.
Wer sich heute mit möglichst unverfälschtem Tantra befassen will, sollte also einigen Mut und viel Lust auf Veränderung im Gepäck haben, denn traditionelles Tantra setzt auch heute noch auf Provokation. Allerdings niemals um der Provokation selbst willen, sondern stets, um einen Paradigmensprung im Denken der Übenden zu bewirken: das Erkennen der Wirklichkeit zu erreichen, indem die üblichen Regeln dieser Wirklichkeit für kurze Zeiträume außer Kraft gesetzt werden.
Manche der Methoden – oft überraschend zeitgemäß und psychologisch wohlfundiert – können wir heute noch in Texten wie etwa dem Hevajra-Tantra nachlesen, die als Grundlage für Sadhanas (Übungstexte) des Anuttara-Yoga-Tantra dienen.
Damals wie heute gilt, dass für solche außergewöhnlichen Entwicklungsschritte auch außergewöhnlich viel Energie erforderlich ist: es braucht Konsequenz beim Üben, Entschlossenheit zum Durchhalten, Mut in schwierigen Phasen, Zuversicht, wenn nichts klappen will oder das Gebälk des selbstgebastelten Weltgebäudes zu krachen beginnt. Vor allem braucht es die Kraft zu Weisheit und Demut, wenn sich irgendwann tatsächlich auch Resultate des Übens einstellen.
Woher soll nun diese viele Energie zum Erkennen der Wirklichkeit kommen? Wo gibt es eine Quelle die leicht zugänglich und dabei unerschöpflich ist und unwiderstehlich stark sprudelt?
Die Antwort der frühen Tantrika war naheliegend und ruft dennoch bis heute ungläubiges Staunen hervor: pure Schöpfungsenergie. Die Kraft der Kreativität. Die Lebenskraft schlechthin: Sexualität.
Tantra vermählt also Spiritualität mit Sexualität und gibt der Sexualität ihre tiefe, mystische Bedeutung zurück. Denn was könnte ehrfurchtgebietender sein als das Potenzial zur Schaffung neuen Lebens? Und doch geht von diesem Ehrfurchtgebietenden nichts verloren, wenn die geheimnisvolle Energie ganz bewusst nicht für äußere, sondern für innere Zeugung verwendet wird. Dieser Turbo-Effekt ist es, der tiefe Einsicht in überschaubar kurzer Zeit erlebbar macht.
Sexualität ist für Tantra daher – im Gegensatz zu dem, was oft geglaubt wird – niemals Selbstzweck. Es geht nie um Lustgewinn; der ist lediglich ein angenehmer Nebeneffekt.
Sexualität ist im Tantra ein Gefährt, ein Mittel, eine Form der Meditation, die die Übenden gezielt und ohne persönliche Bindungen zu schaffen verwenden, um genügend Energie zu erzeugen und so schneller ans Ziel des tiefen Verstehens zu gelangen.
Wenn Tantra nun nichts mit Sexualität als Ausdruck von Liebe und Verbundenheit zu einer bestimmten Partnerin zu tun hat – was hat dann Tantra überhaupt mit Beziehung zu tun?
Richtig: Gar nichts.
Oder bestenfalls wieder nur als Nebeneffekt.
Einmal mehr im Gegensatz zu dem, was viele glauben, ist Tantra kein exotisches Wunderelixier, das mit Mantraklang, Räucherstäbchenduft und akrobatischen Stellungen müden Beziehungen wieder auf die Sprünge hilft. Versteht man Tantra in seinem traditionellen Kontext, ohne es zu Sex-Gymnastik oder Paartherapie zu verwässern, dann ist es ein Übungsweg für Individuen, die einander auf diesem Weg weiterhelfen.
Folgt man dabei dem hinduistischen Pfad, ist – sehr verkürzt gesagt – Befreiung von Illusionen für eine*n selbst das Ziel; ist man mehr auf der buddhistischen Seite unterwegs, übt man Tantra, um Erkenntnis zum Wohle aller Wesen zu erlangen.
Sind Beziehungen im Tantra also gar kein Thema?
Aber ja, selbstverständlich – wenn auch ein wenig anders als wir es gewohnt sind. Eine der grundlegenden Methoden ist ja das Verbinden von Gegensätzen. Dies kann in einer ritualisierten Vereinigung zwischen männlich und weiblich geschehen, oder aber auch viel einfacher und alltäglicher: Etwa indem wir es uns zur täglichen Übung machen zu verstehen, dass alles (alles!) was wir wahrnehmen, Projektionen unseres eigenen Geistes sind.
Ganz gleich wen ich also unterstütze, kränke, bewundere oder verachte: es trifft immer nur mich selbst. Insofern ist die Trennlinie zwischen mir und „den anderen“, egal welcher Nationalität, Einkommensstufe oder Geisteshaltung, nur eine weitere Illusion, die mich in meinem Käfig der irrigen Weltsicht gefangen hält.
Habe ich mich durch Übung von emotionalen und geistigen Verstrickungen auch nur ansatzweise befreit, wirkt sich das jedoch automatisch positiv auf sämtliche meiner Beziehungen aus: Ich höre allmählich auf, den anderen Schuld an den Unannehmlichkeiten in meinem Leben zuzuweisen, ich verstehe die Ursachen ihrer eigenen Verstrickungen besser und bin nachsichtiger und geduldiger mit ihnen.
Das wäre, neben Achtsamkeit, Körperbewusstsein und Dankbarkeit, ein sinnvolles tantrisches Übungsprogramm.
Viele meinen freilich, wenn sie zu einer Tantramassage gehen, hätten sie damit schon Tantra erfahren; ebenso meinen Paare oft, eine “tantrische Beziehung” zu leben, während es sich einfach um eine offene Beziehung mit wechselnden Sexualpartnern handelt.
Wer authentische tantrische Lebensfreude und Leichtfüßigkeit leben will, muss vorher einiges an Zeit und Mühe investieren. Authentisches Tantra ist nicht sonderlich konsumentenfreundlich, ziemlich aufwendig und wenig schmeichelhaft fürs Ego, wenn man es ernst meint mit dem Erkennen-Wollen. Eben darum brauchen wir die erwähnten Mengen an Energie, die wir sehr gut aus freudvoller erotischer Betätigung schöpfen können.
Der Haken daran ist, dass das ursprüngliche Tantra von einem natürlichen, herzlichen, entspannten Verhältnis zur Sexualität ausgeht. Hat man ein solches, steht uns die sprudelnde Schöpfungsenergie tatsächlich zur Verfügung, und wir können uns frohgemut ans Erkennen machen. Nur – wer von uns hat schon ein entspanntes, von keiner Neurose oder Peinlichkeit getrübtes, stressfreies und freudiges Verhältnis zur Sexualität?
Um also mit der Kraft der Quelle arbeiten zu können, muss sie zunächst einmal freigelegt werden.
Das ist der Grund, warum das sogenannte westliche Tantra auf der Einsteigerstufe oft eher wie Biodanza und Kommunikationstraining wirkt und auf der Mittelstufe häufig wie Körperarbeit, Therapie und Lebensschule. Auf diese Weise werden jedoch Körper, Geist und Herz behutsam, stufenweise und gemeinsam trainiert; das Ergebnis ist ein holistisches Wachstum des ganzen Menschen.
Erkenntniswege, die den Körper ignorieren oder gar verachten, sind vom tantrischen Standpunkt aus ungünstig, denn ohne Körper hätten wir keine Sinne und daher auch keine Sinneseindrücke. Ohne Sinneseindrücke aber könnten wir die Dualität nicht wahrnehmen, und folglich auch nicht über sie hinauswachsen.
Copyright Helena Krivan
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