Tantra und Klopapier

Immer wieder fragen Teilnehmer*innen sich und uns, woran man denn nun eigentlich erkennen kann, ob jemand “tantrisch” ist.
Ist es die Dauer des Liebesspiels? Akrobatische Stellungen? Die Anzahl an absolvierten Seminaren? Oder etwa die Menge an parallel laufenden Beziehungen?
Vielleicht gibt es da einen einfacheren und dabei zuverlässigeren Barometer…

Kennst du das? Du sitzt gemütlich am Klo, wendest dich nach getanem Werk mit einem befreiten Seufzer dem Klorollenhalter zu und… eine leere Klorolle blickt dir vorwurfsvoll ins Gesicht. Nichts mehr da, nur noch die blanke Kartonrolle. Oder vielleicht hat dein Vor-Sitzender noch ein Restfetzchen von Klopapier drangelassen, um mit diesem Feigenblatt die eigene Bequemlichkeit zu bedecken; du aber sitzt jetzt da mit einem Problem.

Diese Situation kann stellvertretend stehen für viele andere, wo “Freiheit” von lästigem Zwang und beengender Konvention eingefordert wird, sich aber bei näherer Betrachtung als guter alter Egoismus entpuppt. Wenn sich nun jemand näher mit Tantra befasst, so werden irgendwann Fragen zur persönlichen Freiheit auftauchen. Klingt doch so schön, und wir alle wollen natürlich möglichst frei sein! Frei von Altlasten, Ängsten, Zweifeln, frei von alten Mustern und Schmerzen.

Und hier lauert auch das Missverständnis, das sich gerne einschleicht: Freiheit von alten Mustern bedeutet keineswegs, dass man sich auch von Rücksichtnahme, Freundlichkeit, Höflichkeit, Respekt und Zuvorkommenheit verabschiedet. Im Gegenteil: Je “tantrischer” du bist, desto selbstverständlicher wird es sich anspüren, anderen ohne Nachdenken eine große oder kleine Mühe abzunehmen, weniger eine Belastung und mehr ein Beitrag zum gemeinsamen Zusammenleben zu sein, auf die “Freiheit” deines ungebremsten Gefühlsausdrucks locker zu verzichten und, statt jemandem (so authentisch! So spontan!) deine ungefilterte Meinung zu sagen, dich höflich zu entschuldigen. Selbst wenn du gar nichts dafür konntest.

Was das alles mit Tantra zu tun hat, fragst du?
Es hat ganz viel mit Ego zu tun (das ist derjenige Anteil von dir, der beim “entschuldigen, obwohl ich gar nichts dafür konnte” empört aufgejault hat).
Vieles was uns täglich begegnet lädt uns ein, unser ohnehin schon buschiges Ego noch weiter wuchern zu lassen. Das können wir tun, und wir können es nennen wie immer wir möchten – aber es ist ganz gewiss nicht Tantra.
Tantra führt weg vom Ich.

Tantriker – richtige Tantriker! – ersetzen ihre aufgebrauchten Klorollen.
Daran (unter anderem 😉 ) sollst du sie erkennen.

© Helena Krivan, 2018