Ist alles Sonnenschein, wenn ich es nur will?

Wer glaubt, man könne sich Sonnenschein einfach herbeivisualisieren, ist blauäugig, oder hat sich von positiv-Denkern flachreden lassen. 
Sonnenschein kann man nicht herbeiwünschen; Sonnenschein ist oder ist nicht. 
Oder -?

Wenn mein Kind krank oder mein Mann zu einer anderen gezogen ist, wenn aus der Nachbarwohnung um zwei in der Früh  Heavy Metal röhrt oder ich in Panik bin vor dem morgigen Meeting im Büro, macht es wenig Sinn, wenn ich mir einrede, es sei ganz anders. Auch körperliche Schmerzen – sagen wir mal Ischias – fortdenken (-meditieren, -atmen…) können nur ganz wenige.
Wir Fußvolk sind also darauf angewiesen, mit dem Fehlen des Sonnenscheins irgendwie halbwegs würdevoll umzugehen.

Wenn ich den Sonnenschein nicht haben kann, dann will ich den Regen lieben.

Das ist nicht einfach, aber es geht.
Ein wichtiges Hilfsmittel auf diesem Weg: Lerne den Regen zu lieben!
Na super, sagst du – ich soll jetzt frohlocken, weil das Kind die Masern hat und ich keine Ahnung habe, was ich morgen bei dem Meeting vor all den anderen von mir geben soll -?!

Nein, nicht direkt frohlocken.
Nur… na sagen wir, den Widerstand etwas runterfahren.
So dass ein bisschen Luft wird zum Atmen. (Weil Widerstand ist Angst, und Angst macht eng, und wo es eng ist, lässt es sich nur schwer atmen… und wenn wir nicht gut atmen, können wir weder klar denken noch fein spüren).
Selbst der bestgepflegte Widerstand wird nichts an den derzeit herrschenden Tatsachen ändern und bloß Energie verschlingen. Also mal ein bissl weniger davon, ok?

Gut! 
Jetzt können wir mal durchatmen. Aaaaah.
Regen ist gut für die Landschaft.
Masern sind gut für…? Ok, eine Liste.
Für mein Daheimbleiben mit der Kleinen.
Für eine innigere Verbindung zwischen uns, während ich ihr die verschwitzten Haare aus dem Gesicht streiche.
Für das Vorlesen der schon lange überfälligen Geschichte.
Für die Inspiration, die mir diese Geschichte für das morgige Meeting liefert (Stichwort: Drachen können freundlich sein!).
Für die zehn Minuten atemberaubender Stille, wenn sie dann endlich schläft.
Für dieses ver-rückte Gefühl des Ruhens im Auge des Orkans.

Ist das Sonnenschein?
Kaum.
Aber es ist ein guter, satter Regen. Einer der vieles abwäscht, das lang schon verstaubt lag.
Einer, dem man gerne das Gesicht hinhält und lächelt.
Wenn ich den Sonnenschein nicht haben kann, dann will ich den Regen lieben.


© Dr. Helena Krivan, 2018

Tantra und Klopapier

Immer wieder fragen Teilnehmer*innen sich und uns, woran man denn nun eigentlich erkennen kann, ob jemand “tantrisch” ist.
Ist es die Dauer des Liebesspiels? Akrobatische Stellungen? Die Anzahl an absolvierten Seminaren? Oder etwa die Menge an parallel laufenden Beziehungen?
Vielleicht gibt es da einen einfacheren und dabei zuverlässigeren Barometer…

Kennst du das? Du sitzt gemütlich am Klo, wendest dich nach getanem Werk mit einem befreiten Seufzer dem Klorollenhalter zu und… eine leere Klorolle blickt dir vorwurfsvoll ins Gesicht. Nichts mehr da, nur noch die blanke Kartonrolle. Oder vielleicht hat dein Vor-Sitzender noch ein Restfetzchen von Klopapier drangelassen, um mit diesem Feigenblatt die eigene Bequemlichkeit zu bedecken; du aber sitzt jetzt da mit einem Problem.

Diese Situation kann stellvertretend stehen für viele andere, wo “Freiheit” von lästigem Zwang und beengender Konvention eingefordert wird, sich aber bei näherer Betrachtung als guter alter Egoismus entpuppt. Wenn sich nun jemand näher mit Tantra befasst, so werden irgendwann Fragen zur persönlichen Freiheit auftauchen. Klingt doch so schön, und wir alle wollen natürlich möglichst frei sein! Frei von Altlasten, Ängsten, Zweifeln, frei von alten Mustern und Schmerzen.

Und hier lauert auch das Missverständnis, das sich gerne einschleicht: Freiheit von alten Mustern bedeutet keineswegs, dass man sich auch von Rücksichtnahme, Freundlichkeit, Höflichkeit, Respekt und Zuvorkommenheit verabschiedet. Im Gegenteil: Je “tantrischer” du bist, desto selbstverständlicher wird es sich anspüren, anderen ohne Nachdenken eine große oder kleine Mühe abzunehmen, weniger eine Belastung und mehr ein Beitrag zum gemeinsamen Zusammenleben zu sein, auf die “Freiheit” deines ungebremsten Gefühlsausdrucks locker zu verzichten und, statt jemandem (so authentisch! So spontan!) deine ungefilterte Meinung zu sagen, dich höflich zu entschuldigen. Selbst wenn du gar nichts dafür konntest.

Was das alles mit Tantra zu tun hat, fragst du?
Es hat ganz viel mit Ego zu tun (das ist derjenige Anteil von dir, der beim “entschuldigen, obwohl ich gar nichts dafür konnte” empört aufgejault hat).
Vieles was uns täglich begegnet lädt uns ein, unser ohnehin schon buschiges Ego noch weiter wuchern zu lassen. Das können wir tun, und wir können es nennen wie immer wir möchten – aber es ist ganz gewiss nicht Tantra.
Tantra führt weg vom Ich.

Tantriker – richtige Tantriker! – ersetzen ihre aufgebrauchten Klorollen.
Daran (unter anderem 😉 ) sollst du sie erkennen.

© Helena Krivan, 2018